
Wort zum Tag – 13.06.2025
13. Juni 2025
Aufklärung. Neu
Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, rief vor reichlich 300 Jahren Immanuel Kant den Menschen zu. Sei dazu nicht zu feige und nicht zu faul. Tu das, was du selbst kannst, auch selbst. Lass dir das nicht durch Rituale oder durch Bücher oder durch andere Menschen abnehmen. Manchmal frage ich mich, ob wir nicht eine neue Aufklärung brauchen. Und ich frage mich das als Frau der Kirche, wohl wissend, dass Kant den Kirchen nicht wohlgesonnen war. Aber Gott selbst hielt er für eine moralische Notwenigkeit, eine Grundvoraussetzung, eine Grundannahme, ohne die die gesamte Moral gar keinen Sinn ergibt. Der Mensch schafft es aus sich selbst heraus nicht, ethisch gut zu handeln. Es bedarf eines Ziels, einer Utopie, eines Traums für diese Welt, um sich ganz für eine andere Welt einzusetzen.
Angesichts der Fülle an Nachrichten, aus denen man kaum sinnvoll auswählen kann, angesichts des Übermaßes an Selbstdarstellungen, Eitelkeiten und schlichter Gier, die täglich über die Menschen hinwegfluten, scheint mir sein Ruf so nötig, wie zu seiner Zeit.
Allerdings sehe ich, anders als Kant, auch das Herz gefordert. Der Verstand allein genügt nicht. Reines Wissen und reiner Verstand lassen das Leben erkalten. Das Gute, das Sinnvolle, das Hilfreiche und Heilende braucht auch Herzen, die mit Wärme und Güte diese Welt erfüllen. Menschen, denen es nicht egal ist, was mit dem Nachbarn geschieht.
Eine Aufklärung heute stellt die Gottesfrage in der westlichen Welt in ein weitgehend glaubensfeindliches Umfeld. Dabei wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, um es mit einem Sprichwort zu sagen. Dass es Menschen gibt, die Fehler, teils schwere Fehler machen – und dies auch in der Kirche, sagt noch nichts über Gott aus. Es zeigt nur, dass wir alle, ob Vertreter der Kirche oder nicht, dem Menschsein nicht entkommen. Wir werden nicht zu Halbheiligen, weil jemand den Segen zuspricht.
Und doch kann man es versuchen und wieder versuchen, was denn die Worte aus alter Zeit heute zu bedeuten haben: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Oder: Fliehe falsche Propheten. Oder: Geh so mit dem anderen um, wie du es dir auch für dich selbst wünschst. Wenn über Jahrtausende und teils über Religionsgrenzen hinweg die selben Sätze weitergegeben werden, dann scheint sich darin mehr an Weisheit zu verbergen, als es auf den ersten Blick scheint. Dann ist der Traum von einer Welt, in der Menschen sich auf Augenhöhe begegnen und Gott nebenan wohnt, noch nicht zu Ende geträumt. Vielleicht kommt es vor allem auf den Mut jedes Einzelnen an, mit Herz und Verstand einen alten Glauben neu zu buchstabieren, der mehr ist als eine flüchtige Antwort auf eine Google-Anfrage.
Pfarrerin Bettine Reichelt im Kirchspiel Muldental
