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Wort zum Tag – 19.09.2025


19. September 2025

Safe Space

Ich habe die Bilder der Katastrophe, die vor 23 Jahren meine Heimatstadt Grimma getroffen hat, noch vor Augen. Die Mulde, dieser eigentlich beschauliche Fluss, ein riesiger brauner Strom, der die historische Altstadt mehrere Meter unter Wasser gesetzt, der mit seiner Kraft Brücken, Häuser, Straßen, Autos zerstört und mit sich gerissen hat. Wassermassen, die Hab und Gut vieler Menschen innerhalb kurzer Zeit vernichteten. Wo man auch hinblickte, ein nie dagewesenes und unvorstellbares Maß an Zerstörung und Elend und mittendrin die geschockten, vom Hochwasser unmittelbar und mittelbar betroffenen Menschen. Und ich habe ebenso Worte aus Psalm 46 vor Augen. Denn in großen Buchstaben waren sie in diesen Fluttagen am Eingang einer christlichen Gemeinde in Grimma zu lesen: Gott ist unsre Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben. Der alte Text aus dem Liederbuch des Volkes Israel erinnert ebenso an Naturkatastrophen, die wüten, wie auch an die Katastrophe von Krieg, Belagerung und Zerstörung der Hauptstadt Jerusalem. Die Bilder der Verse sind keine Gleichnisse, sondern getränkt mit realen Erfahrungen. Und trotz all dieser Schreckensszenarien ist für den Dichter die Stadt Jerusalem bzw. der „Berg Zion“ gleichzeitig der sicherste Ort der Welt. Unter dem „Berg Zion“ versteht die Bibel insbesondere den Berg, auf dem der jüdische Tempel stand. Der Ort, an dem Gott wohnt und gegenwärtig ist, war zugleich Schutz- und Zufluchtsort, ein sicherer Raum. Der Glaube darüber, wo Gott wohnt und gegenwärtig ist, hat sich in der Bibel und in der jüdisch-christlichen Glaubenstradition weiterentwickelt. So predigt Paulus später in Athen: Gott wohnt nicht in Tempeln, die von Menschenhand gemacht sind … Keinem von uns ist er fern … Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir. Das meint, so formuliert es der Theologe Tobias Fritzsche: „Weil Gott in uns wohnt, kann er uns da, wo wir sind, zu einer Zuflucht werden. Bei ihm haben wir einen ‚safe space‘ (einen sicheren Raum). Dieses Gefühl der Nähe Gottes gibt Kraft und Zuversicht.“ Keine Frage: Die Not der Menschen war groß in Grimma in jenen Augusttagen im Jahr 2002. Und dennoch blieben insbesondere auch Christenmenschen trotzig-zuversichtlich. Sie sahen den Ernst der Lage, klar und ungeschminkt. Sie ließen sich davon aber nicht lähmen, sondern ergriffen die Möglichkeiten, die ihnen gegeben waren. Erster Ort für Informationen, Hilfen, Begleitung, leibliche und geistliche Versorgung, Klage und Stille – ein „Safe Space“ par excellence wurde nach der Flut für viele Monate die Grimmaer Frauenkirche im Zentrum der Altstadt.

Tobias Jahn – Geistlicher Leiter der Diakonie Leipziger Land