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Wort zum Tag – 31.01.2025


31. Januar 2025

Konkret

Wer ist gut? Und wer weiß, ob es der andere auch ist? Politisch gesehen scheint es mir in letzter Zeit viel Klarheit zu geben: Man nimmt es für sich selbst in Anspruch – und spricht es den anderen ab. Die Grenzen müssen ausgelotet werden. Aber sollte es nicht die Stärke einer Demokratie heute sein, dem Gegenüber prinzipiell eine eigene Meinung zuzugestehen?

„Ich missbillige, was Sie sagen, aber ich werde bis zum Tod Ihr Recht verteidigen, es zu sagen“, lässt die britische Autorin Evelyn Beatrice Hall in einem ihrer Bücher Voltaire sagen. Offensichtlich ist dieser Satz so passend für die Aufklärung, für Toleranz und Meinungsfreiheit, dass er Voltaire selbst zugeschrieben wird. Wer ist gut in diesem Sinne? Der, der die Meinung eines anderen als Position anerkennt – auch wenn er sie ablehnt. Prinzipiell sind beide Menschen auf Augenhöhe. Prinzipiell sind unterschiedliche Positionen vollkommen normal. Prinzipiell.

Aber wenn es konkret wird? Woran entscheidet es sich dann? Vielen scheint es schwerer zu fallen, anderen prinzipiell eine sachgerechte Position zuzugestehen. Vor allem Menschen, die in der Öffentlichkeit sichtbar sind, wird das zunehmend abgesprochen. Cancel Culture sagt man. Dieses dürfe man nicht mehr sagen. Und jenen müsse man verhindern. Es scheint ein abstraktes Gutes zu geben, dass aus dem Hintergrund heraus agiert. Es bestimmt.

Aber wer oder was ist gut? Reicht es noch mit Augustinus zu sagen „Liebe – und dann tu was du willst“?

Hautnah konkret ist Liebe (wer hat das gleich gesagt?). Dieses konkrete Handeln betrifft zunächst das direkte Umfeld. Nächstenliebe. „Liebe deinen Nächsten – denn er ist wie du“, übersetzte Martin Buber. Das kann herausfordernd genug sein. Kann man das aushalten, dass die Kinder auf dem Hinterhof Fußball spielen? Für ältere Menschen sind sie definitiv lauter, als man‘s gerne hätte – zumal in der Mittagszeit. Kann man es ertragen, dass die demente Nachbarin schon wieder nachts im Haus herumstreicht? Und sollte es einen interessieren, wenn sie dann tagelang nicht mehr zu sehen ist? Wie viel Verständnis für „Das-könnte-auch-ich-Sein“ ist nötig, um Hilfe zu holen oder selbst nicht im Zorn handgreiflich zu werden?

Das Leben stellt konkrete Fragen, weit konkretere, als man das manchmal ertragen kann. Ob wir diese Fragen – so unterschiedlich wir die jeweils entscheiden mögen – in der grundsätzlichen Anerkennung des anderen Menschen beantworten, davon wird abhängen, wie wir als Gesellschaft beieinander bleiben, trotz aller Differenzen. Denn eines bleibt uns erhalten, wie auch immer wir entscheiden: Wir leben gemeinsam auf der einen Welt. Liebe deinen Nächsten – er ist wie du.

Bettine Reichelt – Pfarrerin im Kirchspiel Muldental